Nähert sich die Künstlerin Petra Spielhagen einem konkreten Ort, tut sie dies bevorzugt in Begleitung von Fotokamera und Stativ. Über das Medium der analogen Farbfotografie dokumentierte sie im Jahr 2004 in dem nach Abzug der sowjetischen Truppen verlassenen, aber trotzdem sehr lebendigen Stadtviertel Karaosta (Ostseehafen, ehemaliger Stützpunkt der russischen Ostseeflotte) in Liepaja/Lettland, 2005 in der vor allem von Senioren und inzwischen auch Familien mit Migrationshintergrund bewohnten Hochhaussiedlung Gropiusstadt am Rand von Berlin und im Sommer 2007 in der „gesättigten“ münsterländischen Kleinstadt Ibbenbüren/Kreis Steinfurt vorgefundene nächtliche Situationen im öffentlichen oder öffentlich zugänglichen Raum. So beispielsweise ein vor einem maroden Plattenbau parkendes Auto, ein verlassenes Bushaltestellenhäuschen, ein verrottetes Klettergerüst vor einer Wohnsiedlung oder auch (post-)industrielle Landschaften und Fabrikanlagen.
Alle diese Fotografien verbindet eine prägnante gestalterische Eigenschaft. Petra Spielhagen hat für Ihre Motive, in denen der Mensch selbst nicht präsent ist, ausnahmslos durch künstliches Licht beleuchtete Orte gewählt. Die auffällige Präsenz von Licht verleiht den festgehaltenen Nachtszenen eine starke atmosphärische Aufladung und lässt den Eindruck entstehen, man hätte es mit inszenierten oder im Nachhinein digital manipulierten Situationen, gar bedeutungsvollen „Tatorten“ zu tun. Doch dies ist so nicht der Fall. Erfährt man, dass die Künstlerin ursprünglich vom Bühnenbild kommt, wird ihr gezielter Blick für bühnenhafte Momente, die sie dem Betrachter als „Set“ ohne Protagonisten anbietet und die gleichzeitig bereits Geschichten zu antizipieren scheinen, nachvollziehbar.
Genau an diesem sensiblen Punkt führt Petra Spielhagen ihre ortsbezogene künstlerische Arbeit fort. In Karaosta, in der Berliner Gropiusstadt und auch in Ibbenbüren trat sie über diese Fotografien in Kontakt mit der Bevölkerung. Als Ort der Kommunikation wählte sie jeweils den Wochenmarkt, wo sie an einem eigenen Verkaufsstand unter einem Banner mit der Aufschrift „Tausche Bilder gegen Geschichten“ über mehrere Tage persönlich agierte und ihre vor Ort entstandenen Bildmotive zur Debatte stellte. Im gleichen Zug lud sie die Marktbesucher dazu ein, ihr im realen Austausch gegen einzelne der präsentierten Fotografien, die sie im nachhinein als datierte und signierte Abzüge (13 x 18 cm) übergab, in mündlicher oder schriftlicher Fassung individuelle Erinnerungen und Erlebnisse zu den abgelichteten Orten zu überlassen, ohne dabei bestimmten stilistischen oder rhetorischen Regeln des „Erzählens“ folgen zu müssen.
Im übertragenden Sinne konnten die Geschichten-Erzähler so zu aktiven Protagonisten in den fotografischen Bühnen-Bildern von Petra Spielhagen werden. „Ich bin auf der Suche nach dem realen Skript zu einer von mir entdeckten Bühne“, erläutert die Künstlerin. Sie liefert die Illustration, die Erzähler ihr daraufhin den Text. Diese Vorgehensweise, die Aspekte solistisch-ästhetischer wie gesellschaftsorientiert- partizipativer Arbeit vereint und gleichzeitig Brücken schlägt zwischen „Künstlichkeit und Weltlichkeit“ (Spielhagen), Öffentlichem und Privatem, Bild und Sprache, sowie zwischen Tag und Nacht oder auch Realität und Fiktion, führte die Künstlerin, wie in einer Ausstellung im Jahr 2007 im Kloster Gravenhorst zu sehen und zu hören war, zu recht unterschiedlichen Ergebnissen.
Dabei interessierte sich Petra Spielhagen nicht nur für die eingetauschten Geschichten, die in ihrer Bandbreite vom sachlichen, kuriosen und verklärenden Rückblick bis hin zur kritischen Beobachtung reichen, sondern auch für die Sichtweise und das Rezeptionsverhalten ihrer Tauschpartnerinnen und -partner. Denn hierin vermutet sie Aufschluss darüber, wie in den jeweiligen Ortschaften gelebt und gedacht wird oder auch wie diese Orte von den Bürgern selbst erlebt werden.
„An den Geschichten interessiert mich der öffentliche Raum aus privater Sicht, aus der Benutzung im Alltag“, so Spielhagen. Ohne dabei den Anspruch der Wissenschaftlichkeit für sich zu reklamieren, konnte sie beispielsweise feststellen, dass die Leute in Lettland deutlich mehr Schwierigkeiten damit hatten, die fotografierten Orte in ihrer Umgebung wieder zu erkennen, als die Bewohner der Gropiusstadt. Außerdem gewann Spielhagen den Eindruck, dass ihre Fotos in Karaosta und in der Gropiusstadt als eine Würdigung des Ortes aufgefasst wurden. „Die Fotos wurden dort als nicht alltäglich wahrgenommen“, erinnert sich die Künstlerin.
Das Projekt „Tausche Bilder geben Geschichten“ ist mit der ersten umfassenden Präsentation im DA Kunsthaus Kloster Gravenhorst, während der die Fotografien aller drei Orte in einer Diaprojektion, und die Geschichten – nicht synchronisiert – als unkommentiert eingesprochene Hörstücke über Kopfhörer zu rezipieren waren, noch nicht abgeschlossen. Petra Spielhagen hat vor, noch mindestens an zwei weiteren Orten, unter anderem im österreichischen Linz-Auwiesen, einer autogerechten Planstadt der Achtziger Jahre, nächtliche Szenen im öffentlichen Raum zu fotografieren, um die Ergebnisse dann gegen Geschichten einzutauschen. Nicht nur auf die individuellen Ergebnisse, sondern auch auf die abschließende Gesamtpräsentation aller Stationen darf man jetzt schon gespannt sein.
Der von Spielhagen praktizierte Rückgriff auf aus heutiger Sicht „altmodische“, tendenziell dem low-budget-Segment zuzuordnende Produktionsgeräte und Präsentationsstrategien (analoge Fotokamera, einfacher Marktstand als Kommunikationsplattform, performatives Auftreten ohne geschulte Vermittlerfigur, Diaprojektor, Audiospur über Kopfhörer), sowie der real vollzogene Tausch von signiertem Fotoabzug gegen Geschichte, lässt darauf schließen, dass es der Künstlerin ernst ist um die Sache selbst und es ihr nicht schlicht um eine pompöse, event- oder effektorientierte Inszenierung und ein einseitiges Ausnutzen partizipierender Bürger geht, so wie man es an vielen Beispielen der New Genre Public Art der Neunziger und Nuller Jahre kritisieren kann.
In einer Zusammenführung von Eigensicht und Fremdsicht hat sie eine „andere“, multiauktoriale, unzensierte und nicht- parteiische „Stadtschreibe“ initiiert, mit der sie, ähnlich der „Oral History“, an den von ihr besuchten Orten eine vielstimmige Chronik, ein schwebendes Cluster aus individuellen Stadtbildern und -geschichten hinterlässt.